Meine Yogakurse haben immer ein großes Thema und dieses Mal heißt das Thema: Avidya: das Nicht-Sehen, Nicht-Verstehen oder Verwechseln.
Avidya ist der Nährboden für die übrigen Kleshas (die störenden Kräfte). […] Unbeständiges für Beständiges zu halten, Unreines für Reines, Unglückbringendes für Glückbringendes und Unwesentliches für das Wesentliche zu halten ist Avidya. (Yoga Sutra 2.4-2.5)
Dröge, theoretische Yoga-Philosophie?
Nein, absolut nicht. Denn im Moment können wir sehr gut beobachten, was Avidya mit uns macht. Stichwort: Corona.
Egal, wohin man schaut, egal, welches Medium, egal welcher Supermarkt: Corona allenthalben, sogar hier im Yoga.
Das Thema bewegt. Die einen haben große Angst, die anderen regen sich über den Hype auf, die Dritten entwickeln Verschwörungstheorien. Gleichmütig bleibt kaum jemand.
Was hat das mit Avidya zu tun?
Zunächst: Das Gefühl der Angst ist für den Menschen überlebenswichtig. Es hilft uns, Gefahren zu erkennen und darauf zu reagieren. Es erhöht die Aufmerksamkeit und liefert auf körperlicher Ebene Energie, um wahlweise zu flüchten oder zu kämpfen. Das Herz arbeitet stärker, die Muskeln sind bereit für einen Sprint, die Atmung beschleunigt, alles dank der Stresshormone, die der Körper ausschüttet. Eine gute Technik, um schnell auf eine Gefahr reagieren zu können.
Der Nachteil ist: Unter diesen Bedingungen leidet die Klarheit. Die Angstreaktion ist ausschließlich auf schnelles Handeln ausgelegt, nicht aber auf gründliches, klares und vor allem ruhiges Denken.
Die Angst verschleiert den klaren Blick. Sie bringt die Menschen dazu, Supermarktregale und Apotheken leerzukaufen und bei jedem Nieser des Nachbarn die Schultern hochzuziehen.
Der Wunsch, sich und seine Nächsten zu schützen hat viele sehr schnell reagieren lassen, mit entsprechenden Folgen für die Versorgung anderer. Schnelligkeit gilt in der Yogaphilosophie nicht umsonst als ein Dämon.
Diejenigen, die ins andere Extrem verfallen sind, die die Situation herabtun oder Verschwörungstheorien entwickeln, sehen aber ebenfalls nicht klar. Sie reagieren mit Trotz – jetzt erst recht – oder mit Beschuldigungen. All das trägt aber nicht zur Klarheit bei.
Klar sehen können wir nur, wenn der Geist zur Ruhe kommt.
Die Aktivität dieser triebhaften Kräfte lässt sich durch Dhyanam (das stille Reflektieren) überwinden. (Yoga Sutra 2.11)
Das kann sich im Moment jeder erlauben, denn es droht keine unmittelbare Gefahr, keiner muss sich in den nächsten Sekunden auf den Baum retten. Was wir also üben sollten ist, den Geist zu beruhigen. Durch Bewegungen in Verbindung mit dem Atem. Durch das Verlängern des Ausatems. Durch das stille Sitzen. Und dann wird auch wieder klar, wieviel Klopapier der Einzelne wirklich braucht.
Hast Du die Geduld zu warten, bis der Schlamm sich gesetzt hat und das Wasser klar ist? Kannst du unbewegt verweilen bis die rechte Handlung von selbst auftaucht? (Laotse)