Philosophie im krama

Dieser Artikel erschien im Deutschen Yoga Forum, 1-2020.

Wer in seinen Yogaunterricht philosophische Hintergründe einfließen lassen will, hat eine besondere Aufgabe. Denn die meisten Schüler erwarten sich zunächst vom Yoga, dass sie sich dort bewegen und entspannen können. Lange Sitzphasen mit anspruchsvollen Vorträgen zählen nicht zu dem, was die Mehrheit sucht.

Wie also lässt sich Philosophie so vermitteln, dass die Teilnehmer sie als eine Bereicherung der Stunde oder idealerweise sogar als Bereicherung für ihr tägliches Leben empfinden?

Teilnehmer da abholen, wo sie stehen

Bei den Yogaübungen ist es für uns Yogalehrer selbstverständlich, die Teilnehmer an dem Punkt abzuholen, an dem sie körperlich gerade stehen. Darauf aufbauend steigern wir ganz allmählich die Anforderungen. Es ist ein achtsames, schrittweises Vorangehen, ein Üben im krama.

Analog lässt sich dieses Prinzip auch für das Vermitteln philosophischer Inhalte anwenden.

Daraus folgt die erste Frage: Wo stehen die Teilnehmer, wenn sie in den Kurs kommen?

Müde und abgeschlagen im Yogaunterricht

Ich unterrichte vorwiegend abends, in der Regel Volkshochschulkurse, also eher inhomogene Gruppen. Die Teilnehmenden erscheinen körperlich und geistig müde, sie fühlen sich abgeschlagen. Gleichzeitig sind viele innerlich sehr unruhig. Die meisten haben den ganzen Tag gesessen oder gestanden. Die Rücken sind verspannt, es fällt ihnen schwer, aufrecht zu sitzen, der Atem ist nicht frei. In diesem Zustand ist schon das bloße Sitzen eine Anstrengung. Die ersten Minuten einer Yogastunde sind für sie ein schlechter Zeitpunkt, um philosophischen Betrachtungen folgen zu können.

Sie brauchen etwas Zeit, um überhaupt zuhören zu können. Auch wenn es in vielen Traditionen üblich ist, den Vortrag gleich zu Beginn zu halten, lohnt sich ein Umstellen der Abläufe.

Anfangsrituale, zum Beispiel sanfte Bewegungen oder auch einfaches Strecken, Räkeln und Gähnen ohne festgelegte äußere Form helfen, wieder in Kontakt mit dem eigenen Körper zu kommen.

Anschließend fällt es schon leichter, sich in einem Sitz einzurichten und es lohnt sich, in jeder Stunde von neuem die Teilnehmer einzuladen, sich Hilfsmittel dafür zu holen. Egal, ob Decke, Block, Stuhl, Hocker oder Kissen: Alles ist erlaubt, was ihnen hilft, einen aufrechten, stabilen und gleichzeitig leichten, anstrengungsfreien Sitz zu finden.

Nun brauchen die Teilnehmenden noch einen Übergang für den Geist, von der Unruhe in die Ruhe, vom unbewussten zum bewussten Atem, von der Zerstreutheit zur Präsenz. Eine kleine Eingangsmeditation, eine Körperreise oder ein Chant können dies befördern und Raum schaffen für die Themen der Yoga-Philosophie.

Alltagsthemen beschäftigen

Folgt die zweite Frage: Wie vermittle ich Yoga-Philosophie?

Auch hier lohnt es sich, die Teilnehmenden dort abzuholen, wo sie gerade stehen. Was beschäftigt sie? Welche Sorgen haben sie, wo ecken sie in ihrem Leben an, hier und jetzt, in ihrem Alltag?

Um meine Kurse vorzubereiten, achte ich immer darauf, worüber in meinem Umfeld gesprochen wird: in meiner Familie, unter meinen Freunden, beim Einkaufen an der Kasse, im Café, im Zug. Was ich dort höre, nehme ich als Inspiration für die Yogastunden auf. Einige Hauptthemen derzeit sind: Stress, gesundheitliche Sorgen, private oder berufliche Konflikte und in letzter Zeit vermehrt die Sorge vor politisch instabileren Zeiten, gesellschaftlicher Polarisierung und zunehmender Aggressivität.

All das sind keine Wohlfühlthemen. Dürfen sie trotzdem in einer Yogastunde thematisiert werden, wo die Menschen hingehen, um sich zu entspannen und zu erholen?

Nur Wohlfühlthemen im Yoga?

Ich meine: ja, vorausgesetzt, wir finden einen Weg, nicht die Ängste zu schüren oder zu politisieren, sondern unseren Teilnehmern zu zeigen, wie die Yogaphilosophie mit diesen Problemen umgeht. Dazu versuche ich, die Themen auf kleine Einheiten herunterzubrechen, die jeder aus seinem Alltag kennt, die ihn aber nicht in Unruhe versetzen.

Ein Beispiel soll dieses Vorgehen verdeutlichen:

Wenn wir das letzte der oben aufgelisteten Haupttthemen aufgreifen wollen, die Sorge vor gesellschaftlicher Polarisierung und Auseinandersetzungen, bietet sich die Verbindung mit der Idee von „pratipaksha bhavana“ an (Yoga Sutra 2.33).

Um das Thema einzuführen, können wir die gesellschaftliche Stimmung schildern, den Namen Trump nennen, oder den ruppigen Umgangston im Internet. Greifbarer aber wird das Thema erst durch den Bezug zum eigenen Leben, beispielsweise durch die Schilderung einer alltäglichen Parkplatzsituation. Jeder kennt von sich selbst die Wut, wenn einem an einem stressigen Tag vor der Nase eine Parklücke weggeschnappt wird. Jeder ist schon wüst angehupt worden und weiß, wie sehr sich viele Menschen in ihre Wut hineinsteigern. Diese banalen Dramen spiegeln die gesellschaftliche Stimmung – und sie sind der Hebel, an dem jeder für sich selbst ansetzen kann, um sich nicht mehr ganz so ausgeliefert zu fühlen.

Ausgehend von solch einer Schilderung lässt sich der Bezug zu Yoga Sutra 2.33 herstellen:

Unsicherheit in Bezug auf die Umsetzung der Verhaltensregeln von Yama und Niyama lässt sich durch Bhavana auf das Gegenteil von dem, was wir für richtig halten, lösen.1

In andere Hineinversetzen – pratipaksa bhavana

Das Sich-Hineinversetzen in den anderen Autofahrer, der gerade die gleiche Parklücke belegen möchte wie man selber, ist für die meisten Menschen machbar. Aus der Ruhe der Yogastunde heraus kann sich auch jeder ausmalen, wie er anders reagieren könnte, nicht mit Wut, sondern indem er sich in den anderen hineinversetzt und so der Situation die Schärfe nimmt.

In der Summe dauert die gesamte Einführungsphase mit Begrüßung, Bewegen, zur Ruhe kommen und einführenden Worten zehn bis fünfzehn Minuten in einem 90-minütigen Kurs.

Anschließend lässt sich das Einführungsthema, hier pratipaksha bhavana oder der Perspektivenwechsel, durch eine ganze Stunde ziehen. Im konkreten Beispiel habe ich im Zentrum der Stunde meine Teilnehmer tatsächliche Perspektivenwechsel vornehmen lassen. Hierzu übten sie eine Gehmeditation in Verbindung mit einem einfachen Vinyasa. Die Gruppe stellte sich im Kreis auf und machte jeweils acht meditative Schritte. Dann wendete sich jeder der Kreismitte zu, um die neue Perspektive in sich aufzunehmen. An diesem Platz führte ich die Teilnehmer durch das Vinyasa, bei dem die jeweiligen körperlichen Haltungen unterschiedliche Einstellungen spiegelten.

Anschließend folgten die nächsten acht Schritte im Kreis, das erneute sich-Hinwenden zur Kreismitte, das Wahrnehmen der neuen Perspektive und von neuem das Vinyasa.

Die Ansagen veränderten sich von Station zu Station, von zunächst dem eher körperlichen Fokus immer mehr hin zu der inneren Ausrichtung, beispielsweise durch Ansagen wie „eine mutige Haltung“, „eine demütige Haltung“, „eine offene Haltung“ oder „eine zurückgezogene Haltung“. Am Schluss, wieder auf der eigenen Matte, nahmen die Teilnehmer noch einmal die eigene Perspektive wahr.

Nach einigen Ausgleichshaltungen übte die Gruppe nadi shodhana, die Wechselatmung, um noch einmal die Polarität wahrzunehmen und zu harmonisieren. Die Stunde endete im stillen Sitzen.

1In der Interpretation von R. Sriram. Patanjali. Das Yogasutra. Von der Erkenntnis zur Befreiung. Bielefeld 2006.

Das nächste Seminar zu Stundeneinführungen findet vom 4. bis 5. Juli 2020 in München statt. Mehr Infos auf meiner Seite zu den Worten im Yoga.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert